Von Irmi Feldman

 

Die Blicke waren kaum zu ertragen. Weder die mitleidigen noch die schadenfrohen, denn die gab es auch. Erhobenen Hauptes schritt der Graf zurück in seine Burg. Das Spießrutenlaufen war vorbei. Obwohl er wusste, dass er keinen Freiwilligen finden würde, der willig war sich für seinen Sohn zu opfern, war es doch einen Versuch wert gewesen. Für seinen Sohn Harald würde er alles tun. Natürlich wollte keiner seiner unfreien Bauern für seinen Sohn in den Tod gehen. Nicht nach den jahrelangen Qualen, den Folterungen, den Grausamkeiten, die er den Bauern und deren Familien angetan hatte.

Gleich nachdem sein letzter Abgesandter nach monatelanger Abwesenheit an diesem Morgen in die Burg zurückgekehrt war und berichtet hatte, dass der Graf dem Fluch der Hexe entgehen könne, indem er einen Freiwilligen finde, hatte er sich ins Dorf aufgemacht, um seine Bitte vorzutragen. Doch alle hatten nur stumm den Kopf geschüttelt.

Jetzt tat es dem Grafen leid, dass er ein so harter Lehensherr für seine Dorfgemeinde gewesen war. Einer, der bestrafte, noch bevor er die Information hatte. Einer, der keine Widerrede duldete. Einer, der kein Mitleid zeigte. Wie viele Hände hatte er abhacken lassen wegen der kleinsten Diebstähle, die meist nur aus Hunger begangen worden waren? Wie viele Bauern hatte er blenden lassen, weil sie den Zehnten nicht bezahlen konnten?

Und warum hatte er die Bauern und ihre Familien nie in die Burg gelassen, wenn die Hexe jeden 1. April ins Dorf kam, um sich einen der Bauernsöhne zu holen? Flehend hatten die Bauern jedes Jahr an das Burgtor gehämmert. Er möge aufmachen und ihre Söhne hineinlassen, hatten sie gebettelt. Er hatte es nicht getan. Es waren schließlich nicht seine Söhne, sondern nur elendige Bauerntölpel, um die kein Hahn krähte. Die starben sowieso weg wie die Fliegen: an Seuchen, an Unfällen, an Hunger. Was machte es da, wenn noch ein weiterer Sohn sein miserables Leben verlor? Ein Esser weniger, hatte er hämisch von seiner hohen Warte zu ihnen hinuntergerufen.

Und nun, da die Hexe dabei war, seine eigene Familie auszurotten, nun hoffte er auf Hilfe? Auf Mitleid? Auf Barmherzigkeit? Sogar er wusste, wie irrsinnig das war.

Was konnte er nur machen, um seinen zwölfjährigen Sohn Harald, seinen Erstgeborenen, vor der Hexe zu retten? Die Zeit lief ihm davon. Morgen schon, am 1. April würde die Spiegelhexe wie jedes Jahr aus dem Wald treten, schnurstracks durchs Dorf schlurfen, und sich Eingang in die Burg verschaffen. Irgendwie. Sie hatte es auch vor einem Jahr geschafft, als sie sich seinen jüngsten Sohn Temur, nur sieben Jahre alt, geholt hatte. Obwohl die Burgtore verschlossen und seine Söhne in den Kammern eingesperrt waren; schwer bewacht von den besten Soldaten in der Burg, hatte die Spiegelhexe sich Zutritt verschafft. Wie sie das angestellt hatte, war dem Grafen immer noch ein Rätsel.

War die Hexe erst einmal in der Burg, würde sie so lange nach seinem Sohn suchen, bis sie ihn gefunden hatte. Sie würde ihn zwingen in ihre Spiegelaugen zu starren, und so sein Leben aus ihm heraussaugen. Seinen leblosen Körper würde sie zurücklassen, genau wie sie vor einem Jahr den leblosen Körper seines jüngsten Sohnes Temur zurückgelassen hatte.

 

Der Graf schauderte. Er verfluchte die Hexe, die alljährlich seinem Dorf dies antat.

 

Jeder im Land kannte die Legende von der Hexe mit ihrem Zauberspiegel, den ein Junge aus diesem Dorf vor Hunderten von Jahren zerbrochen hatte. Die Hexe war einst viel mächtiger gewesen. Ihr Zauberspiegel hatte ihr Kräfte verliehen, die sie mächtiger als alle anderen Hexen im Lande machte. Die Hexe hütete den Spiegel wie ihren Augapfel. Das Besondere an dem Spiegel war, dass er nicht nass werden durfte. Wenn die Hexe zum Baden in den See stieg, ließ sie den Spiegel in einem geheimen Versteck am Ufer zurück. Dort fand ihn eines Tages ein Junge aus diesem Dorf. Als die Hexe den Jungen am Ufer erblickte, fing sie an zu kreischen. Vor Schreck ließ der Junge den Spiegel fallen, der daraufhin in Millionen Scherben zerbrach, die sich sogleich im Wasser auflösten. Nur zwei Scherbchen schwebten wie von Geisterhand gehoben über dem Wasser. Ein Windstoß ergriff sie und trieb sie in die Augen der Hexe, wo sie sich für immer festsetzten. So wurde aus dem Zauberspiegel, die Spiegelhexe. Rachsüchtig wie sie war, holte sie sich seither immer am 1. April einen Jungen aus dem Dorf, zwang ihn so lange in ihre Spiegelaugen zu blicken, bis sie alles Leben aus ihm herausgesogen hatte. Im darauffolgenden Jahr holte sie sich den Bruder. Und den nächsten. Und den nächsten, so lange, bis diese Familie keine Söhne mehr hatte. Erst dann suchte sie sich eine neue Familie, die sie zerstören konnte.

Viele Male hatten die Bauern des Dorfes versucht, die Hexe zu töten, doch alles war vergeblich. Die Spiegelaugen beschützten sie vor allen Angriffen. Nicht einmal Feuer konnte ihr etwas anhaben.

 

Unruhig trat der Graf am nächsten Morgen auf den Burghof. Alles war bereit. Den Burgraben hatte er schon vor Monaten um fünf Fuß vertiefen lassen. Die Zugbrücke war hochgezogen; das Burgtor verrammt; die Scharfschützen auf den Zinnen platziert; kochendes Pech in den Kesseln. Die Bauern und ihre Familien, die sich auf Anordnung des Grafen im Burghof versammelt hatten, waren bewaffnet mit Stöcken, Beilen und Speeren. Sein Sohn Harald war eingesperrt in der sichersten Kammer der Burg, beschützt von den fähigsten Soldaten; die schmalen Fenster zugemauert.

Keine Maus konnte ungesehen in die Burg eindringen. Und doch war der Graf nicht sicher, ob all dies ausreichte, die Hexe auszusperren.

Die letzten Anordnungen waren gegeben. Jetzt hieß es warten. Und hoffen. Und beten. Ja, der Graf versuchte sich sogar im Beten, obwohl das nicht seiner Gewohnheit entsprach.

Plötzlich teilte sich die Menge, bildete eine Gasse, um Platz zu machen für einen alten Mann, der von zwei anderen geführt wurde.

„Mein Herr, darf ich mit Euch sprechen?“, fragte der Mann.

„Was wollt Ihr?“, herrschte der Graf ihn an. „Ich habe keine Zeit. Steht hier nicht im Weg. Ihr könnt uns nicht einmal helfen. Blind wie Ihr seid.“

„Vielleicht kann gerade ein Blinder Euch helfen“, sagte der Mann. „Ihr sucht einen Freiwilligen, habe ich gehört, der sich der Spiegelhexe ausliefert. Ich melde mich freiwillig.“

„Ihr?“, rief der Graf aus. „Aber warum?“

„Ich bin alt und, wie Ihr seht, blind. Ich werde bald sterben. Wenn mein Tod Euren Sohn retten kann, so tu ich das gerne.“

Der Graf schluckte. Ihm schwante Schlimmes.

„Kenne ich Euch?“, fragte er.

„Ja, Herr. Ich bin Jussup. Ihr habt mich vor Jahren blenden lassen, weil ich meinen Zehnten nicht zahlen konnte.“

Der Graf erblasste.

„Und doch wollt Ihr mir helfen?“

„Ich habe Euch verziehen, mein Herr“, sagte der Blinde.

Der Graf war sprachlos.

„Bringt mich vor das Tor“, sagte der Blinde.

Die Wächter taten wie ihnen geheißen.

Keine Minute zu früh. Schon kündigten die Scharfschützen an, dass die Hexe aus dem Wald getreten sei und sich auf das Dorf zubewegte. Langsam. Sie hatte keine Eile. Sie würde ihr Opfer bekommen. Wie jedes Jahr. Ohne sich umzuschauen, ging sie durchs Dorf. Sie wollte zur Burg. Wie geplant, würde sie sich heute den zweiten Sohn des Grafen holen. Seinen Ältesten. Harald. Schon von weitem nahm die Hexe die sitzende, vorn übergebeugte Gestalt vor dem Burgtor wahr.

Ah, dachte sie. Sie haben mir den Sohn vor die Burg gebracht. Umso besser. Und doch wunderte sie sich, dass der Graf so einfach seinen Sohn aufgab.

Je näher sie kam, desto mulmiger wurde ihr. Irgendetwas stimmte nicht, doch die Hexe wusste nicht was.

Vor der sitzenden Gestalt blieb sie stehen.

„Schau mich endlich an!“, sagte die Spiegelhexe, wütend darüber, dass die Gestalt nicht zu ihr hochblickte.

Die Gestalt hob den Kopf. Die Hexe erschrak. Das war kein Kind. Das war nicht der Sohn des Grafen. Das war ein alter Mann. Ein Freiwilliger? Wie hatte der grausame Graf einen Freiwilligen gefunden? Wer würde sich für seinen Sohn opfern?

Doch was sie am meisten beunruhigte, war die Augenbinde. Dreckig und zerfleddert. Langsam hob der Alte die Hände und entfernte sie. Die Hexe erstarrte. Da war nichts. Keine Augen. Nur ausgebrannte, vernarbte Leere. Augenhöhlen ohne Augen. Lange starrte sie in die leeren Augenhöhlen. Je länger sie starrte, desto matter wurden ihre eigenen Spiegelaugen. Sie wollte sich abwenden, den Kopf drehen, sich diesem Bann entziehen, doch sie konnte nicht. Die leeren Augenhöhlen befahlen ihr das Gegenteil. Sie starrte und starrte, bis ihre Spiegelaugen blind waren. Der Bann war gebrochen.

Kraftlos sank die Hexe zu Boden. Dann geschah es. Die Hexe begann sich aufzulösen. Zuerst nur ihre Füße, dann die Waden, die Knie, ja, die ganzen Beine. Für einen Augenblick schien es, als ob die Hexe über der Erde schwebte. Dann verschwand – Zentimeter für Zentimeter – ihr Körper. Die Arme. Der Hals. Der Kopf. Zuletzt schwebten nur ihre blinden Spiegelaugen über der Erde, die sich im leisesten Windhauch sogleich in Staub auflösten.

Und dann war sie weg.  

Irmi Feldman, v1, 9002z